C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Das »Chasarische Wörterbuch« als Hypertext
Der Leser des »Chasarischen Wörterbuchs« ist in einem sehr konkreten Sinn mit Bruchstücken konfrontiert, mit Fragmenten einer Geschichte, ihrer Interpretationen und Meta-Interpretationen. Über die Reihenfolge, in welcher er die Lexikonartikel liest, kann er selbst entscheiden. Neben dem linearen Leseweg durch das Buch (von vorn nach hinten) wird vor allem ein damit konkurrierender Weg vorgeschlagen, nämlich das Hin- und Herspringen zwischen den drei Teillexika anläßlich der Artikel zu analogen Gegenständen. Auf die in den drei Teillexika enthaltenen Gegenstände verweisen die symbolischen Zeichen des Davidsterns, des Halbmonds und des Dreiecks; sie führen von jeweils einem Artikel in die Parallelartikel der anderen beiden Teillexika. Aber auch diese Kreuz- und Querlektüre ist nur ein Vorschlag; insgesamt ist der Wörterbuchroman ein Mobile von Textbausteinen, die immer wieder neu zusammengesetzt werden können. Die einleitenden Bemerkungen zur Benutzung des Wörterbuchs sind ihrerseits keineswegs eindeutig, denn sie gestalten sich weniger als konkrete Gebrauchsanweisung denn als Sprungbrett ins Phantastische.
»So kann der Leser das Buch benutzen, wie er es selbst als am angenehmsten empfindet. Die einen werden wie in jedem anderen Lexikon das Wort oder den Namen suchen, der sie im Augenblick interessiert; andere können das Buch als ein Material auffassen, das es in Gänze durchzulesen gilt, von Anfang bis Ende, in einem Zug, um so ein Gesamtbild über die chasarische Frage und die damit in Zusammenhang stehenden Personen, Dinge und Ereignisse zu erhalten. Das Buch läßt sich von links nach rechts blättern und von rechts nach links, so wie das Lexikon, in Preußen veröffentlicht, zumeist auch umgeblättert wurde (hebräische und arabische Quellen). [...] Diese ins einzelne gehenden Anweisungen sollen jedoch den Benutzer dieses Wörterbuchs nicht entmutigen. Er kann guten Gewissens all diese einleitenden Anmerkungen überspringen und lesen, wie er ißt: indem er liest, kann er das rechte Auge als Gabel, das linke als Messer benutzen und die Knochen hinter sich werfen. Auch das ist genug. Es kann allerdings geschehen, daß er sich verirrt und unter den Wörtern dieses Buchs verliert, so wie es Masudi erging, einem der Autoren dieses Wörterbuchs, der sich in fremden Träumen verlor und den Weg zurück nie wiederfand. In diesem Fall bleibt ihm nichts anderes übrig, als von der Mitte her irgendeine Richtung einzuschlagen, um sich einen eigenen Weg zu bahnen. Dann wird er sich durch dieses Buch bewegen wie durch einen Wald, von Zeichen zu Zeichen, Orientierung suchend im Betrachten der Sterne, des Mondes und des Kreuzes. Ein anderes Mal wird er es lesen wie der Vogel Mäusefalk, der nur des Donnerstags herumfliegt, auch kann er es erneut umstellen und umschichten, auf unzählige Weisen, wie einen Zauberwürfel. Hier wird weder eine Chronologie respektiert, noch ist sie notwendig. So wird jeder Leser selbst sein Buch in ein Ganzes verwandeln, wie eine Partie Domino oder Karten, und von diesem Wörterbuch, wie von einem Spiegel, so viel erhalten, wie er hineingesteckt hat; denn von der Wahrheit – so steht auf einer Seite dieses Lexikons geschrieben – verlangt man nicht mehr zu erlangen, als man in sie einbringt. Im übrigen braucht man das Buch nie vollständig zu lesen, man kann aus ihm eine Hälfte hinausnehmen oder nur einen Teil und es dabei belassen, wie man es gewöhnlich mit Wörterbüchern hält. Je mehr man sucht, desto mehr gewinnt man, so daß hier dem glücklich Suchenden alle Beziehungen zwischen den Namen dieses Wörterbuchs zufallen werden. Der Rest ist für die anderen.« (Pavić, 21f.)
Das »Chasarische Wörterbuch« ist hinsichtlich seiner Form ein programmatisches Projekt. Pavić selbst hat Spekulationen über die Literatur des 21. Jahrhunderts angestellt, denen zufolge die Linearität des geschriebenen und gedruckten Worts fortan nicht länger »gefragt« sei.
»Der Mensch wird gewahr, daß sich die geschriebene Sprache durch ihre Linearität von seinen Gedanken und Träumen unterscheidet, die nicht linear sind, die, in ständiger Bewegung begriffen, nach allen Seiten hin ausschlagen und sich verzweigen. [...] Die Sprache der Literatur zwängt unsere Gedanken und Träume, Gefühle und Erinnerungen in ein eingleisiges System, das, gelinde gesagt, schwerfällig ist und allzu träge für die Zeit, in der wir leben. Daher sind die Bemühungen um ein nichtlineares Erzählen so etwas wie die Rettung des literarischen Werks vor der Linearität der Sprache. Deshalb erfinden Computer- oder Elektronik-Schriftsteller interaktive Romane, in denen die Sprache aus der Linearität heraustritt und der Leser seine eigene Landkarte des Lesens kreiert. [...] [E]s ist nicht wichtig, ob der Computer die Literatur überlebt, sondern ob sich eine bereits verbrauchte Literatursprache ändern und sich der Linearität der menschlichen Gedanken, Gefühle und Träume annähern kann.« (Die Zeit, 22. 4. 1999, S. 58)
Die Form des »Chasarischen Wörterbuchs« gleicht der eines Hypertextes. Pavić selbst spricht von Hyperfiction, um die von dieser Buchform gebotenen Leseoptionen gegen die der traditionellen Buchform abzugrenzen: Die Zeit der linearen Lektüren sei vorbei, so meint er – und der zeitgenössische Leser fordere mehr Entscheidungsspielraum, der ihm in der hyperfictionalen Literatur auch eingeräumt werde.
Pavić, in: http://www.khazars.com/end-of-novel.html. – »I am [...] inclined to say that we are rather at the termination of one manner of reading. It is the crisis of our way of reading the novel, and not the novel itself. The novel-one-way road is in a crisis. [...] Hyperfiction is teaching us a novel can move as our mind moves, in all directions at once. And to be interactive. I tried to change the way of the reading increasing the role and responsability of the reader in the process of creating a novel [...]. I have left [...] to the readers the decision about the choice of the plots and the development of the situations in the novel: where the reading will beginn, and where it will end, even the decision about the destiny of the main characters.«