C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Sprache und Typographie

In den drei Texten Boccaccios, Lessings und Pavićs geht es um die Frage nach der Beziehung zwischen Sprache und Macht, nach der erklärenden oder ordnenden Kraft des Wortes, nach Sprache als Handlung. Lessings Ringparabel wird zu Recht als reflexive Auseinandersetzung mit sprachlichem Handeln betrachtet und als Modellfall sprachlicher Performanz ausgelegt (Wehrli, Beatrice: Kommunikative Wahrheitsfindung. Zur Funktion der Sprache in Lessings Dramen. Tübingen: Niemeyer 1983. Wehrli zur Ringaparabel 159: mit diesem ›Muster ›persuasiver Argumentation‹ werde »dem Kommunikationspartner die Sinnlosigkeit dogmatischer Wahrheitsbegründung und damit die Absurdität der Frage nach der einzig wahren Religion einsichtig gemacht.«) Mit der Gestaltung der Parabel kommt es bei Lessing wie schon bei Boccaccio zur Selbstthematisierung des Erzählens als einer in einem sozialen und kulturellen Kontext praktizierten (Sprach-)Kunst, und für Pavićs dreifachen Bericht über die Chasarische Polemik gilt dies in potenzierter Weise, insofern nicht allein in drei Versionen von den Folgen eines auf sprachlichem Gelände ausgetragenen Wettstreits berichtet wird, sondern die Folgen unterschiedlicher sprachlicher Auslegung der Geschichte an den Artikeln insgesamt ablesbar werden.
Bei Pavić hat sich gegenüber Boccaccio und Lessing die Einstellung zur Sprache deutlich verschoben. Im Decamerone erscheint Sprache vor allem als Medium zur pragmatischen und säkularen Lösung eines drohenden Konflikts. Die Novellenform erscheint einer so akzentuierten Reflexion über den Gebrauch von Sprache in besonderem Maße affin, insofern das klassische Novellenerzählen eine Haltung gegenüber dem Erzählten impliziert, welche es gestattet, die Voraussetzungen und Folgen menschlichen Handelns aus der reflexiven Distanz zu überdenken. Lessing setzt Sprache ein, um sowohl die Unbeantwortbarkeit einer Frage (der nach dem echten Ring) als auch eine denkbare Konfliktlösung darzustellen, wobei im Zuge dieser Darstellung das Sprechen selbst sich als Form eines Handelns erweist, das der Toleranz den Weg ebnet. Eine solche Modellierung des Sprachgebrauchs als eine Form des Handelns paßt zur dramatischen Gattung, welcher hier implizit die narrative Form subsumiert wird, insofern Nathans Erzählen ja im Zentrum der Handlung steht. Bei Pavić stiftet Sprachliches in seiner Widersprüchlichkeit, welcher die Vielheit der Sprachen korrespondiert, Verwirrung; man könnte sich angesichts der zunehmenden Verwicklungen, welche mit der Zahl sprachlicher Äußerungen nicht abnimmt, sondern zunimmt, an das Motto zu Laurence Sternes »Tristram Shandy« erinnern, der zweifellos zu den wichtigen Vorläufern dieses Romans gehört. (Pavić hat sich selbst als Schriftsteller als der Zeit Lessings und Sternes verbunden charakterisiert.)