C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Boccaccios Version der Ringparabel

Lessing hat die Ringparabel als Geschichte einer denkwürdigen Erbschaft selbst geerbt. (Zu den differenten Versionen der Ringparabel, die Boccaccios Fassung vorangingen: M. Penna: La parabola dei tre annelli e la tolleranza nel medio evo. Torino 1953 – sowie vor allem: Friedrich Niewöhner: Veritas sive Varietas – Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern, Heidelberg 1988) Auf die dritte Erzählung des ersten Teils von Boccaccios »Decamerone« hat er in einem Brief an den Bruder Karl von 1778 selbst hingewiesen. (Lessing nennt Boccaccios Version als seine Vorlage im Brief an seinen Bruder Karl vom 11. 8. 1778. Werke, Band 2, München 1971, 718-719. Ein analoger Hinweis findet sich in einem Brief an Herder vom 10.1.1779. Werke, Band 2, S. 721) Boccaccios Novelle erzählt ebenfalls von einem Juden, Melchisedech, der von Sultan Saladin mit der Frage nach der wahren unter den drei großen Religionen in die Enge getrieben wird. Während es Lessings Saladin tatsächlich um diese Frage selbst geht, verbirgt sich hinter der Befragung des Juden durch Boccaccios Saladin ein gegenüber religiösen Fragen letztlich indifferentes eigensüchtiges Interesse: Er möchte den Juden aufs Glatteis führen, auf daß dieser Verfängliches sage, um ihn dann ohne offene Gewalt zur Gewährung eines großzügigen Kredits zu veranlassen. Melchisedech durchschaut die Absicht, und so wie Saladin eine Frage gestellt hat, hinter der sich ein ganz anderes als das artikulierte Erkenntnisinteresse, nämlich ein praktisches Bedürfnis verbirgt, erzählt Melchisedech seine Ringparabel nicht zuletzt aus einem eigenen praktischen Bedürfnis heraus, nämlich dem, sich der gestellten Falle zu entwinden. Wiederum ist das Erzählen zugleich ein Handeln (mit dem auf Machtstrukturen Bezug genommen wird). Melchisedechs kluge Erzählung hat den gewünschten Effekt: Der Sultan schenkt ihm sein Vertrauen, statt ihn seine Macht spüren zu lassen, und man begründet in eine für beide Seiten erfolgreiche ökonomische Partnerschaft.
Für Boccaccio selbst war die Geschichte der Auseinandersetzung um die Offenbarungsreligionen bereits eine Erbschaft. Zwei Vorlagen insbesondere scheinen für seine Version in Frage zu kommen: eine anonyme Sammlung italienischer Erzählungen aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert sowie ein Roman des Busone de’Rafaelli von 1311. Die Parabel selbst ist wahrscheinlich jüdischer Provenienz und in Spanien entstanden; ihre Spuren lassen sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen, verlieren sich aber insofern im Unbestimmbaren, als sich in verschiedenen Kulturkreisen Reminiszenzen an die Parabel oder einzelne ihrer Motivelemente finden.