Nicht nur das Ende der Chasarischen Polemik entzieht sich dem Bedürfnis, etwas zu »wissen«. Die Chasaren als ein Volk, von dem gar keine sichere direkte Spur zurückgeblieben ist, nur indirekte Spuren in Gestalt der Zeugnisse späterer Beschäftigung mit ihrer rätselhaften Geschichte – Zeugnisse, die einander zudem oft widersprechen –, die Chasaren, die es dabei doch gegeben hat (übrigens nicht nur in der Fiktion Pavićs), sind Inbegriff all dessen, was sich der Deutung entzieht. Sie selbst hatten eine Neigung zur dauernden Metamorphose, eine Tendenz, sich dem Fremden zu assimilieren und in verfremdeter Gestalt, fremder Sprache, fremden Formen fortzubestehen. Glaubt man den Berichten des Wörterbuchs, so war es für ihre Kultur charakteristisch, daß sie sich schrittweise von ihrem Namen, ihrem Stand und ihren religiösen Ritualen zu lösen pflegten. Um der Möglichkeit solcher Verwandlung willen schätzten sie die fremdkulturell geprägten Bewohner ihres Landes. Die chasarische Sprache wurde auf eigentümliche Weise gebraucht: Araber, Griechen und Juden schrieben chasarische Gedichte, die Chasaren selbst hingegen verzichteten auf die schriftliche Fixierung ihres Idioms. Sie lebten in der Gegenwart. Andere mochten nach ihrer Geschichte fragen – »nur den Chasaren selbst ist dies nicht erlaubt, sie dürfen über die eigene Vergangenheit weder sprechen noch Bücher über sie zusammenstellen« (Pavić 234).
Viele Indizien sprechen dafür, in der Chasarischen Welt eine Metapher der Literatur selbst zu sehen, die sich auf keine bestimmte Kultur, keinen bestimmten Glauben verpflichten läßt und doch jeweils die Sprache dessen spricht, mit dem sie ein vorübergehendes Bündnis eingeht. Zu diesen Indizien gehören insbesondere die Berichte über die besondere Sprache der Chasaren und deren Formbarkeit, deren spannungsvolle Beziehung zu grammatischen Normen (vgl. Pavić 234–235). Die rätselhafte zauberkundige Prinzessin Ateh ist eine Gestalt, die durch ihre Sprache wie durch ihre Affinität zum Paradoxen als Allegorie des Poetischen erscheint, wie sie über den Religionen und ihren Kontroversen steht. Sie selbst ist nicht untergegangen, sondern reinkarniert sich bis zur Gegenwart immer neu. Pavićs Roman ist ein metapoetischer Text, worin wiederum eine Anknüpfung und Überbietung dessen liegt, was bei Lessing und schon Boccaccio geschah: Dort erschien das Erzählen von Geschichten als eine Antwort auf Konflikte, der Erzähler dieser Geschichten als Schlüsselfigur, über welche die Dichtung mit einem Gestus des Selbstverweises ihre eigene Bedeutung angesichts von Glaubenskrisen und historischer Orientierungslosigkeit hervorhob. Pavić setzt der Poesie ein Denkmal – einer Dichtung, auf deren Spur sich alle Zeitalter und Kulturen zu begeben versuchen, und die sich doch jedem bestimmenden und vereindeutigenden Zugriff entzieht.
Form und Inhalt lassen das »Chasarische Wörterbuch« als prototypisch postmodernen Roman erscheinen – insbesondere wegen der durchgängigen Entdifferenzierung zwischen Fiktionalem und Faktischem, wie sie sowohl für das Romanpersonal als auch für die angeblich oder tatsächlich verwendeten Quellen charakteristisch ist. Die Chasaren sind insofern ein besonders naheliegender Anlaß, als sich ihre historisch durchaus bezeugte Existenz schon lange vor Beginn der modernen Historiographie im Nebel der Legenden und Spekulationen verloren hat. Und das »Liber Cosri« des Jehuda Halevi markiert eine nicht genauer faßbare Grenze zwischen erfundenen und realen Quellen, insofern es zwar selbst existiert hat, bei Pavić aber in einer mystifizierenden Weise als Quelle beschworen wird. Ähnlich wie Leonardo Sciascia, Umberto Eco und andere postmoderne Parodisten des historischen Romans demonstriert Pavić, daß sich gerade dort, wo Geschichte konstruktivistisch als Spielmaterial betrachtet wird, neue Gestaltungsmöglichkeiten für den literarischen Erzähler erschließen.