Die Übersetzung in verschiedene Sprachen – bei welchen ja jeweils eine andere Ordnung der Artikel hergestellt wurde, da die jeweils alphabetisch sortierten Lemmata über die Folge der Artikel entschieden – hat eine Multiplikation des Lexikons zur Folge gehabt. Die Originalfassung des »Wörterbuchs« war in kyrillischer Schrift verfaßt und endete mit einem lateinischen Zitat: »sed venit ut illa impleam et confirmem, Mattheus«. In der griechischen Übersetzung stand am Ende der Satz (im Interview in englischer Sprache zitiert): »I have immediately noticed that there are three fears in me, and not one«. Die englische, hebräische, spanische und dänische Version endet so: »Then, when the reader returned, the entire process would be reversed, and Tibbon would correct the translation on the basis of the impressions he had derived from this reading walk«. Die Serbische Version in lateinischen Buchstaben sowie die schwedische, holländische, tschechische und deutsche Version enden mit dem Satz (dt. Ausgabe 330:) »Dieser Blick beschrieb Koëns Namen in der Luft, entzündete den Docht und erhellte ihr den Heimweg.« Die ungarische Übersetzung endet so: »He simply wanted to draw your attention to what nature is like«. Die italienische und katalonische: »Indeed the Chazar jar serves to this day, although it has long since ceased to exist.« Die japanische Übersetzung schließt mit dem Satz: »The girl had given birth to a fast quick daughter – her death; in that death her beauty had been divided on whey and curdled milk, and at the bottom a mouth was seen keeping the root of reeds.«
Die im Rahmenbericht fallende Bemerkung über die drei Alphabete selbst ist zudem aber ihrerseits auch nur eine Annäherung an die Wahrheit, denn der Leser (zumindest der europäische und amerikanische) hat es ja mit lateinischen Buchstaben zu tun: Was er liest, ist der romanimmanenten Fiktion zufolge schon eine Um-Ordnung der übersetzten Teilwörterbücher, die daraus resultiert, daß die Lemmata in verschiedenen Sprachen mit unterschiedlichen Buchstaben beginnen. Drittens existiert das »Chasarische Wörterbuch« auch als ein solch umgeordnetes Lexikon in verschiedensten Versionen, da sich die Abfolge der Artikel danach richtet, in welche Sprache es übersetzt wurde (Pavić, in: http://www.khazars.com/end-of-novel.html: Pavić über die Konsequenzen der alphabetischen Struktur des Lexikons). Die Vielfalt der Sprachen erzeugt eine Vielfalt der Bücher. Das Buch gibt es nicht – passend zum Ringparabelthema. »Das Chasarische Wörterbuch« als solches entzieht sich dem Zugriff ebenso wie die Chasaren und die Geschichte ihrer Konversion.
Auch die (angebliche) Beziehung des dem Leser vorliegenden »Wörterbuchs« zu seinen diversen Quellen trägt zur Relativierung der Wahrheitsfrage bei. Der Bericht über die Abstammung des »Chasarischen Wörterbuchs« von seinem Vorgängerprojekt, dem Kompendium des Daubmannus, kling hochgradig phantastisch und spielt insofern mit der Strategie einer Authentifizierung, wobei die Grenzen zwischen tatsächlichen Informationen über chasarische Quellen und imaginären Referenzen absichtsvoll verwischt wird. Vom Werk des Daubmannus wurden kurz nach dessen Erscheinen aus Zensurgründen alle Exemplare vernichtet, mit Ausnahme von zweien, von denen eines seiner barbarischen Nutzung zum Opfer fiel, ein anderes vergiftet war. Daubmannus’ Wörterbuch gründete noch auf der Basis eines Glaubens an eine absolute Ordnung der Dinge. Dem Leser sollte es möglich sein »aus der Reihenfolge der Ordnungswörter den verborgenen Sinn eines Buches herauszulesen«, wie es in Anspielung auf kabbalistische Lesepraktiken heißt (Pavić 10). Die aktuellen drei Teillexika mit ihren unterschiedlichen alphabetischen Ordnungen lassen das nicht mehr zu; sie brüskieren jeden Versuch, aus den fragmentarischen Informationen über die Geschichte der Chasaren und ihrer Nachfolger auch nur eine kohärente Handlung herauszulesen und konfrontieren den Leser ostentativ mit der Kontingenz austauschbarer Alphabete. Und doch besitzt auch die Form des aktuellen »Chasarischen Wörterbuchs« ihre eigene Wahrheit, denn dieses spiegelt in seiner Dreiteilung eine geteilte Welt. Die paratextuelle Ausstattung des Lexikons, das Beiwerk zum Text, unterstreicht diese Teilung; jedes der drei Teillexika hat seine eigenen Symbole und seine eigene Symbolfarbe.