C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Reflexionen über das Erzählen
Bei Boccaccio und Lessing erscheint die Erzählung selbst als angemessene Form, zwar nicht die Wahrheit, wohl aber das Bemühen um Wahrheit zur Darstellung zu bringen. Darin liegt ihre Wahrheit, und diese ist das Äußerste, was der Mensch erlangen kann. Zudem demonstrieren Boccaccio und Lessing dadurch, daß sie ihren weisen Juden in bedrängter Situation zur Erzählung greifen lassen, daß das Erzählen eine Reaktionsform auf unlösbare Probleme sein kann, welche dem (Über-)Leben dient. Das Erzählen erscheint als spezifisch »menschliche« Reaktion auf unlösbare Rätsel, unbeantwortbare Fragen nach der Wahrheit. Es korrespondiert in seiner Verlaufsform dem Streben nach der Wahrheit, welches Lessing über deren Besitz stellte.
Auch bei Pavić ist die Erzählung als Form der Parabel mehr als eine äußerliche Darbietungsweise. Explizit erklärt er selbst es als sein Ziel, die Literatur, und zwar insbesondere das literarische Erzählen, auch unter veränderten diskursiven und mediengeschichtlichen Voraussetzungen fortzuführen. Die Gestalt des Lexikonromans als offene Vielheit von Teilerzählungen, die ineinandergreifen und in unterschiedliche Konstellationen gebracht werden können, versteht sich als zeitgemäße Kunstform, ist Modellierung der Geschichte und der Gegenwart – und ambivalenterweise zugleich ästhetische Gestaltung und Aufweis der Undarstellbarkeit von
Wahrheit.
Eine Bemerkung sei an dieser Stelle der Forschungsarbeit Niewöhners zur Rekonstruktion der Geschichte der Ringparabel gewidmet, einem Projekt, das hinsichtlich seines Erkenntnisinteresses wie seiner philologischen Methodik dem fiktiven Projekt der Erstellung eines Kompendiums über die Chasaren durchaus ähnelt. Niewöhners Buch macht – obwohl dies nicht seine primäre Intention sein dürfte – sinnfällig, daß die Frage nach der Form des Buchs nicht nur mit der nach der Zukunft des Romans, sondern insbesondere mit der nach der Darstellbarkeit historisch-philologischer Befunde eng zusammenhängt. Diese philologische Monographie über die Geschichte und Vorgeschichte der Ringparabel hat selbst eine Form, welche der des »Chasarischen Wörterbuchs« nicht unähnlich ist. Das Buch gliedert sich in einzelne Artikel, deren Folge man sich auch anders denken könnte. Die in den Artikeln teilweise weitläufig zitierten Texte stellen sich mehrheitlich als Varianten eines nicht faßbaren hypothetischen Ausgangstextes dar: der Urfassung der Parabel. Niewöhner sammelt Argumente und Indizien, welche Maimonides als Urheber der Parabel plausibel machen, aber seine Darstellung verläuft nicht als linear angelegte Argumentation, sondern sie streift über ein komplexes kulturelles und historisches Feld von Texten, historischen Daten, Interpretationen und Interpretationen von Interpretationen.