C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Zur Geschichte der Ringparabel

Lessings Ringparabel gilt zu Recht als Kerntext der späten Aufklärung: die Geschichte eines Mannes, der drei Söhne, aber nur einen Ring zu vererben hat – einen Ring mit der »geheime(n) Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen«, wenn er nur »(i)n dieser Zuversicht« getragen wird (Nathan, III, 7). Im Konflikt, welchem der drei gleichermaßen geliebten Söhne er diesen Ring übereignen soll, läßt der Vater – von der Familientradition gehalten, ihn an den »geliebtesten« Sohn weiterzugeben – zwei exakte Kopien anfertigen, so daß jeder Sohn ein Exemplar erhält. Nach dem Tod treffen die Söhne bei einem weisen Richter zusammen, der sie daran erinnert, welche Kraft dem echten Ring zugesprochen wird und in welcher Zuversicht er getragen werden muß, wenn diese Kraft sich manifestieren soll. Ein jeder möge, so der Rat des Richters, der die Entscheidung über den wahren Ring ans Ende der Geschichte vertagt wissen möchte, in »Sanftmut«, »Wohltun« und Gottesergebenheit danach streben, die Kraft des eigenen Ringes zu erweisen. Insofern mit solch tugendhafter Lebensweise die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß die dem Ring zugeschriebene Wirkung – Gott und den Menschen angenehm zu sein – eintritt, geht es in der Rede des Richters letztlich gar nicht mehr um eine magische Kraft, welche einer der Ringe an sich besäße, sondern um das Handeln der Söhne, mit welchem sie ja unabhängig von solcher Kraft die ersehnten Wirkungen erzielen können. Die Frage nach dem echten Ring hat diese Einsicht zwar ausgelöst, aber sie erledigt sich insofern, als die Söhne, wenn sie dem Rat des Richters folgen, auf den echten Ring verzichten können.

Die Parabel wird bekanntlich von Nathan dem Weisen erzählt, als er von Sultan Saladin – aus keineswegs uneigennützigen Motiven – mit der Frage nach der wahren der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam bedrängt wird. Auf so subtile wie transparente Weise versinnbildlicht die unlösbare Frage nach dem echten Ring die nicht minder unbeantwortbare Frage nach dem »wahren« Glauben, und die Mahnung des weisen Richters, ein gottgefälliges und menschenfreundliches Leben zu führen, um die Wahrheit des eigenen ererbten religiös-kulturellen Besitzes an den Tag zu legen, läuft auf die Idee hinaus, daß solche Wahrheit gar nicht einem Besitztum innewohnen kann – auch nicht den Lehren einer Religion –, sondern allein dem Leben, das man mit diesem Besitztum führt. Die Wahrheit ist nichts Vorgegebenes, kein Objekt, kein Besitz, sondern sie hat den Charakter eines Geschehens; sie wird, anders gesagt, nicht wie ein totes Besitztum vererbt, sondern muß am Leben erhalten werden, und zwar durch menschliches Handeln.