V.
Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Paratexte, Selbstkommentare und Gebrauchsanweisungen: Ironische Autoreferenzialität

Tranchirers bzw. Wolfs Ratgeberbücher sind in hohem Maße selbstbezüglich. Viele Artikel thematisieren neben Gegenständen, Regeln, Zuständen und Praktiken verschiedenster Art auch ihre eigene Vermittlungsweise von ›Wissen‹. Unter anderem imitiert Tranchirer eine konventionelle Praxis des Querverweisens auf andere Artikel, wobei viele solche Verweise ins Leere laufen. Und wie angedeutet werden die Artikel von Pseudo-Paratexten umrahmt, die ihrerseits das Genre der Leseanweisung ebenso parodieren wie die Artikel die Textsorte des konventionellen Beitrags zu einem sachkundlichen Handbuch. Schon das erste Ratgeberbuch von 1983 verspricht auf einem Vorsatzblatt zur Erläuterung des Titels – »Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt« – so vieles, Verschiedenes und vor allem Heterogenes, daß die Suggestion einer nachfolgenden Orientierung des Lesers sich durch Überbietung einschlägiger Versprechungen von innen heraus auflöst.

Verheißen werden:

»Beratungen, Hinweise, gesammelte Erkenntnisse und Ansichten für unterschiedliche Gelegenheiten, Früchte der Beobachtung und des Nachdenkens mit brauchbaren Auskünften aus dem Erfahrungsschatz des Verfassers, notwendige Hilfsmittel zur Ausübung des geselligen Verkehrs, Mitteilungen über Personen, Dinge und ihre Umgebung, Anmerkungen zum Weltverkehr mit einer Beschreibung der Eisenbahn unter Berücksichtigung der Krümmungsverhältnisse, Anweisungen für Dienstboten und Hausfrauen, unvergessliche Aussprüche und Anregungen, niedergeschrieben für die heutigen harten Zeiten zur Aufklärung von Mißverständnissen und zur Verdeckung des schlechten Geschmacks, Gedanken zur Hut- und Hosenfrage mit mehr als dreizehn Bemerkungen über die Luft und einer Beurteilung der unhaltbaren Zustände in O, Einführungen in die Verbesserung der Menschenkenntnisse und der geschlechtlichen Übungen zur Förderung der Zufriedenheit aller Beteiligten, samt einer Anleitung zur Ausführung des Bergführerberufs, nebst einleuchtenden Vorstellungen einer auf Tatsachen gegründeten freimütigen Erörterung der allgemein herrschenden Lage und einigen gründlichen Andeutungen über die Macht der Wahrheit und ihrer Benutzung im täglichen Leben, Aufklärungen über die Behandlung des Fleisches, Abhandlungen über das Verhalten zur Vermeidung von Übertreibungen und Betrachtungen zur Auffindung verschwundener Gegenstände, sowie Anhaltspunkte zur Bekämpfung der Erfolglosigkeit mit einer zuverlässigen Darstellung des Wetters und seiner Folgen, Empfehlungen zur Dämpfung der Unlust, Erläuterungen zur Lebensverlängerung, Nachrichten über die Umwälzungen im Weltall, Erörterungen der Straßenzustände zum Gebrauch für Spaziergänger und deren Begleitung, Überblicke über den heutigen Stand der Dinge, Naturwunder und Ländermerkwürdigkeiten, Handbuch für bessere Tage mit Anhaltspunkten für das persönliche Wohlergehen und Beispielen zur Unglücksverhütung, Enttäuschungsvermeidung, Entscheidungsverhinderung, mit einem Verzeichnis verblüffender Schicksalstips, Gesundheitsversuche, Vergnügungsübungen, Zerstreuungsangebote, Zimmerkunststücke, größerer Solo-Scherze und einer Anleitung zum Handeln in alphabetischer Reihenfolge.« (Ratschläger, 3)

Neben Ankündigungen zu Inhalten und Themen des jeweiligen Bandes enthalten die paratextuellen Partien der Bücher auch explizite oder implizite Angaben zum Gebrauch, den der Leser von ihnen machen und zum Nutzen, den er aus ihnen ziehen soll. Charakteristisch für diese Rahmentexte ist stets ein (selbst-)parodistischer Grundzug, verbunden mit Hinweisen auf fiktive Kollegen und Kontrahenten Tranchirers (deren Namen schon in seinem frühen Prosatext »Pilzer und Pelzer« auftauchen) sowie die Übertreibungen des Wertes, den die vermittelten Kenntnisse angeblich haben. So unterbreitet die »Welt- und Wirklichkeitslehre« einleitend mehrere »Vorschläge zum Gebrauch dieses Buches«, die mit Absichtserklärungen des Enzyklopädisten verbunden werden. Die Anleitungen zum Gebrauch sind nicht minder skurril als die Selbstbeschreibungen.

»Mein Buch, das in seiner jetzigen Ausstattung mit Recht das beste und vollkommenste der gesamten Wirklichkeitsliteratur genannt werden könnte, gibt eine praktische und vernünftige Erklärung der Gedanken, Ursachen und Unterschiede vom Leben und seinem Wechsel, den man gewöhnlich den Tod nennt. Es erklärt die Mittel und Wege, ein richtiges Leben zu führen, die Wirklichkeit zu erkennen, zu beherrschen und zu überstehen. Wer die Gesetze der Wirklichkeit nicht begreift, weiß wenig, eigentlich nichts. Ich behaupte, daß es mir nach langjährigem nächtlichem Nachdenken gelungen ist, die verborgene hintere Seite der Natur entdeckt und berührt zu haben. Ich habe dabei, so gut es ging, die Anwendung schwerer Worte vermieden, denn ich spreche zur Menschheit im Allgemeinen. Ebensowenig habe ich mich mit Annahmen und Möglichkeiten, mit Vermutungen und anderen Zweifeln befaßt, sondern mich vielmehr streng an die gründlich im eigenen Kopf erprobten Kenntnisse gehalten und zur vollständigen Befriedigung aller denkenden Menschen ausgebreitet; kurz, ich richte mich an die Vernunft des Publikums. Es hat ein Anrecht auf meine Gedanken. Ich bin überzeugt, daß es mich anhören und mir herzlich zustimmen wird. Um die Tendenz meines Familienbuches nicht zu gefährden, habe ich zu gewissen Dingen geschwiegen. Ich verweise die Spezialisten deshalb auf Wobsers Schrift, die unter dem Titel Die Kunst, sinnreich zu quälen. Ein Handbuch für alle, die davon Gebrauch machen wollen im Handel ist. Dennoch hat unser Werk mit Mut und Glück eine Weltfrage angefaßt, von der die Wissenschaft noch immer zurückschreckt. Die Verhöhnungen, denen ich mich von Seiten Klomms und seiner Gefolgschaft ausgesetzt sehe, bedrücken mich schon lange nicht mehr. Die Nachwelt, auf deren Urteil ich mich zuversichtlich vertröste, wird mir die Stellung anweisen, die mir zusteht.« (Welt- und Wirklichkeitslehre, 6f.)