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Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Zu »Bemerkungen über die Stille«
»Stille. Es gibt eine Zeit für Geräusche und eine Zeit für die Stille. Ich bin der Ansicht, daß es sich hier, auf der Seite 125, um die Stille handelt, um etwas, das doppelt so lange ist, wie ich befürchtet, erwartet oder vermutet habe, um die Stille, die Ruhe, die Lautlosigkeit, die Geräuschlosigkeit. Ich werde nicht mehr hinaussehen, es nützt ohnehin nichts, obwohl, ich befinde mich hier in einer vorteilhaften Position. Das ist eine hervorragende Stelle, um den wirklichen, den tatsächlichen Vorgang der Stille beobachten zu können. Zum Beispiel auf der anderen Straßenseite, hinter den geschlossenen Fenstern, sitzen die Leute mit ihren abgeschnittenen Köpfen und starren in den Regen, der alles wegätzt....« Bemerkungen über die Stille (Frankf./M. 2005), S. 125.

Auch in den »Bemerkungen über die Stille« (2005) bleibt Tranchirer bei seinem Kompositionsprinzip: Er kombiniert Texte und Bilder, die ihrerseits aus heterogenen Elementen bestehen. Wiederum kommt es zur Neuverwendung von Bildelementen, die bereits aus früheren Ratgeber-Bänden bekannt und hier zu neuen Collagen gefügt worden sind. So trifft der Leser neuerlich auf einen Fischschwarm, der in der »Welt- und Wirklichkeitslehre« bereits an einer knienden Frauenfigur vorbei durch eine Kirche schwebte (Welt- & Wirklichkeitslehre, 153), und der nun gemeinsam mit Möwen den Strand vor einer exotischen Stadt überfliegt (Bemerkungen, 87). Neue Bild-Materialien stammen vor allem aus Reiseführern und ethnographischen Darstellungen (vgl. etwa Bemerkungen, 85 und 86).

Die Artikel wirken in sich geschlossener als die früherer Bände, wie kleine erratische Blöcke aus Auskünften über eine merkwürdige Welt, nach deren Zusammenhang zu suchen niemand mehr den Mut aufbringen wird. Sicher hat der Titel des Buches entscheidenden Anteil an der Suggestion, Tranchirer setze sich schreibend mit der »Stille« auseinander. Aber auch das Layout des Bandes hat daran maßgeblichen Anteil: Im »Ratschläger« drängten sich noch viele Artikel auf eher engem Raum; die Seiten enthielten fast immer mehrere Artikel; redselig suggerierte Tranchirer, er ziehe das ausgebreitete Wissen aus einem schier unerschöpflichen Fundus an Informationen, und reihte entsprechend einen Artikel dicht an den anderen. In den »Bemerkungen« stehen sie Artikel oft allein auf der jeweiligen Seite – wie Nachrichten, die dem Verstummen abgerungen sind, wie Botschaften aus einer Welt, die vom Wort nicht ausgelotet werden kann. Durch die Suggestion des Fragmentarischen, durch den Eindruck einer dem Schweigen und der Unbeschreiblichkeit abgerungenen Serie von Gedanken und Beobachtungen ändern sich nicht zuletzt die Beziehungen der Texte zu den sie begleitenden Bildern. Auch die Bilder scheinen auf ihre Weise von der Stille, dem Schweigen zu künden, das sich zwischen den einzelnen Mitteilungen breitmacht.

Gesten der Selbst-Relativierung und Selbstzurücknahmen prägen diverse Artikel mit auffälligem Nachdruck, etwa in den Informationen über ein merkwürdiges Tier, die sich abschließend mit paradoxaler Wendung für mehr oder weniger überflüssig erklären:

»Madenhacker: Der Madenhacker läuft sehr schnell von einem Gebüsch zum anderen – Zuweilen fällt er vor Hunger vom Himmel. Er stürzt ohne weiteres von oben zur Erde herab. Das alles zieht schmerzliche und bedenkliche Folgen nach sich, geschieht aber so selten, daß es im Grunde gar nicht erwähnt werden muß.« (Bemerkungen, 62)

Die hier vollzogene ›Verkehrung‹ der konventionellen Textgattung Lexikonartikel durch Zurücknahme des Informationsanspruchs findet auf visueller Ebene ein interessantes Pendant, auch wenn – erwartungsgemäß – keine Illustration zum ›Madenhacker‹ geboten wird: Zugeordnet ist diesem Artikel eine Collage, auf der im Vordergrund zwei Fledermäuse zu sehen sind, deren Haltung der hängender Exemplare entspricht, die aber umgedreht wurde und nun zu sitzen scheinen (Bemerkungen, 63).

In einem anderen Artikel wird die erwartbare Information über etwas für den Lexikographen letztlich Undarstellbares konsequent auf später vertagt. Tranchirer bewegt sich schreibend auf etwas zu, das er eingestandenermaßen gar nicht im Griff hat und entwirft eine Skizze zu einem künftigen Artikel statt diesen selbst zu bieten.

»Schlatt. Es schreiben so viele Autoren von Dingen, über die sie nicht viel zu sagen haben, daß ich es auch einmal versuchen werde. Ich werde vom Schlatt schreiben, von einer Erscheinung mit schwachvioletten Flecken. Ich werde zunächst vom Schweben schreiben, vom Wehen und Schweben, von schnellen ganz leichten Schwüngen, ich werde natürlich auch von den winzigen harten Sprüngen schreiben, vom Gehen, vom Stehen, ich werde vom Pfeifen schreiben, von den kalten Pfiffen des Schlatt, von seinen fleischfarbenen stämmigen Füßen, von einer Reihe klingender Töne, vom Kratzen, vom Aufkratzen und vom Aufknacken, ich werde, während ich schreibe, ein Hacken im Nacken spüren, und während mein Blut warm am Rücken hinabfließen wird, werde ich von einer fetten vogelartigen Erscheinung schreiben, die in mein Wohnzimmer dringen und die sich auf meinen Kopf setzen wird, hackend und pickend, während ich schreibe, vom Schlatt oder Schmeiß-(110)vogel, ich werde von einer riesenbohnenförmigen Erscheinung schreiben, die wie gerupft durch die Luft fliegt, nackt federlos bleich durchsichtig zittern, mit keuchenden Tönen, wie hustend oder wie röchelnd, schwer aufklatschend, von der Decke herab auf den Teppich fallend, den Rauchtisch, den Schrank, die Vitrine fallend, am Ende wird alles bedeckt sein, das Radio, die Schreibmaschine, die Lampe und mein ganz zerhackter blutiger Kopf. Das ist der Schlatt, über den ich ausführlich schreiben werde, eines Tages. Ich bitte um etwas Geduld.« (Bemerkungen, 109)

Dem vertagenden Gestus des Artikels entsprechend bleibt er unbebildert.