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Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Tranchirers Schreibweisen und das Nichtgeschriebene

Man ahnt, daß Tranchirers Welt fragmentarisch ist, daß sich zwischen allem Festgestellten und Feststellbaren Lücken auftun, daß die Wörter nur bescheidene und unzulängliche Navigationshilfen sind, die die Abgründe zwischen den beschreibbaren Dingen nicht auzuloten vermögen, sondern selbst isoliert voneinander ein monadisches und rätselhaftes Dasein führen. Der letzte Artikel der »Mitteilungen« gilt den »Zwischenräumen«:

»Zwischenräume. Alles um uns her, unsere Kleider, unsere Schuhe, unser Papier, unsere Worte und die aus Worten bestehende und mit den Bewegungen der Worte sich bewegende Welt, das Holz, der Erdboden, die Pflanzenleiber, selbst unser eigener Körper, ist voll von Zwischenräumen, in die das Wasser und jede andere Flüssigkeit eindringen kann. Wir können uns nun selbst eine Erklärung geben für die Durchfeuchtung unserer Kleider und Schuhe vom Regen und wissen von nun an, warum wir die Schuhe mit Schuhcrème überzogen haben, die Worte aber nicht.« (Mitteilungen, 127f.)

Vgl. Mitteilungen, 127: »Zusammenquetschen. Wir dürfen die Worte im Mund nicht zusammenquetschen, sagt Lemm; wir müssen sie vielmehr sorgfältig hintereinander verwenden. Für den, der nur wenige Worte hat, löst sich dieses Problem fast von selbst. Stellen wir also die Worte im richtigen Abstand auf, nicht zu weit auseinander, so daß sie nicht umfallen. Lassen wir aber zwischen den Worten immer ein wenig Raum, eine Lücke für spätere Worte. Worte dürfen sich gegenseitig nicht behindern, sagt Lemm und Collunder sagt: Wo kein Platz ist für Worte, sollte man schweigen.«

Hier – aber auch in anderen Bänden, kultiviert Tranchirer eine ganz besondere Kunst: Die nämlich, vor lauter Selbstbezug den vom Lemma verheißenen Gegenstand zu übergehen, ihn gleichsam gründlich zu vergessen oder bewußt außer Betracht zu lassen.

Ein schönes Beispiel der Selbstbeschränkung à la Tranchirer bietet der Artikel über »Tiefe«:

»Ich gebe bekannt, daß ich nicht die geringste Absicht habe, etwas zur Verteidigung der Tiefe zu sagen, muß aber aus Rücksicht auf die Wahrheit hinzufügen, daß in bedeutenden Höhen alles wirklich ganz anders ist als hier in der großen Tiefe, in der wir uns seit langem befinden. – Ich habe meine Gedanken zu diesem Gegenstand schon in meiner ›Welt- und Wirklichkeitslehre‹ verbreitet, kann also im Moment wohl nichts besseres tun, als das Gesagte wenigstens teilweise zu wiederholen, auch wenn es unappetitlich sein mag: die Wahrheit aber ist nicht unappetitlich. Und die Wissenschaft kennt keine Rücksichten, wenn es darum geht, Wahrheit und Wirklichkeit zu vertreten. Das übrige wird sich finden. Es muß sich sogar finden, um den Fortgang der Ereignisse nicht zu gefährden.« (Mitteilungen für Ratlose, 102)