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Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Zu »Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt«

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»Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt«, enthält eine Vielzahl von Bildern – in der Regel eines bis zwei pro Doppelseite, im Format kleiner Illustrationen, angeordnet wie etwa im »Brockhaus« oder in »Brehms Tierleben«; hinzu kommen ganzseitige Bilder in teilweise mehrseitiger Folge; auch solche Tafeln sind in konventionellen Nachschlagewerken ja üblich. Das Layout des »Ratschlägers« simuliert das lexikographischer und enzyklopädischer Kompendien; umso signifikanter ist es, daß die Erwartung des Lesers, Illustrationen zu den Artikeln vorzufinden, enttäuscht wird. Der erste Artikel des 1983er »Ratschlägers« gilt dem Stichwort »Abbeißen« und lautet, für den »Ratschläger« relativ lakonisch: »Das Abbeißen, sei es von Brot oder von sonst einem Nahrungsmittel, gilt als unzulässig, obwohl die Meinungen hier weit auseinandergehen.« (Ratschläger 1983, 11). Der Informationswert dieses Artikels ist fraglich; die Relevanz seines Inhalts bedarf keiner Kommentierung. Oberhalb des Artikels findet sich ein reprographiertes Photo (Photos verwendet Tranchirer eher selten; meistens benutzt er Stahlstiche) das einen Mann neben einem ihn fast um eine ganze Körperlänge überragenden Brotlaib zeigt; die Bildunterschrift lautet: »Ein Laib Brot, 14 Tonnen schwer« (Ratschläger 1983, 11). Es ist unentscheidbar, ob es sich um eine Photomontage handelt oder tatsächlich ein Riesenbrot photographiert wurde. Zum Inhalt des Artikels besteht zwar ein assoziativer Zusammenhang, aber eine »passende« Illustration wird man in dem Bild nicht sehen. Zudem wird die Zugehörigkeit des Bildes zu genau diesem Artikel dadurch verunklärt, daß auf derselben Seite noch unter »Abende, feste« von Abendmahlzeiten sowie unter dem entsprechenden Stichwort vom »Abendmahl« die Rede ist. In vielen Fällen ist es unentscheidbar, zu welchem der auf der entsprechenden Seite abgedruckten Artikel die abgedruckten Bilder gehören könnten; einmal scheinen sie zu keinem wirklich zu gehören – ein anderes Mal dagegen gleich auf mehrere beziehbar zu sein.

Dazu einzelne Beispiele: Die zweite Illustration auf der ersten Seite (Ratschläger 1983, 11) ist womöglich noch schwerer auf einen Artikel beziehbar als die erste. Sie besteht aus der Reproduktion der Abbildung einer Gefängniszelle, in der sich (hineinmontiert) eine nackte, sich lasziv reckende Frau auf einem kleinen Tisch sowie ein von ihr abgewandt an der Wand stehender Mann befinden. Gehört die Szene (die eine Geschichte zu erzählen scheint) zum zweiten Artikel, »Abbrechen der Beziehungen«, der allerdings keineswegs von Liebesbeziehungen spricht? Oder hat das Bild etwas mit den Abendunterhaltungen zu tun, die in den Artikeln »Abende, feste« und »Abendgesellschaft« erörtert werden?

Auf der folgenden Seite (Ratschläger 1983, 12) findet sich als ganzseitige Abbildung eine Collage, die ein Interieur und mehrere Figuren im Stil der Zeitschriftenillustrationen des 19. Jahrhunderts zeigt: Vier Personen scheinen in lebhafter Auseinandersetzung zu stehen, eine fünfte liegt leblos dahingestreckt am Boden. In an den Wänden aufgehängten Bildern oder Spiegeln sieht man Fragmente von überproportional großen Gesichtern, eines von ihnen in verdrehter Position. Eine Beziehung zu den Artikeln auf der gegenüberliegenden Seite – »Abendstunden«, »Abkühlung«, »Ablehnung«, »Abmagerung«, »Abnehmen des Hutes« –, so lassen sich zwar assoziative Verbindungen konstruieren, da die dargestellte Szene so expressiv wie vieldeutig ist – aber von einem Illustrationsverhältnis kann keine Rede sein. In anderen Fällen bestehen zwar motivliche Analogien, doch sie können ausschließlich assoziativ nachvollzogen werden – wenn der Leser denn darauf aus ist. Bildlegenden liefert Tranchirer allenfalls ausnahmsweise, diese stellen aber zwischen Bild- und Textebene ebensowenig wie das Layout eine erkennbare Relation her – im Gegenteil.

Gerade dann, wenn sich Bilder räumlich als Bestandteile von Artikeln präsentieren, weil sie inmitten des jeweiligen Textes plaziert sind, fallen sie durch ihre unklare Beziehung zum Text jeweils umso deutlicher aus ihrem verbalen Rahmen. Inmitten des Artikels »Abreisen« beispielsweise (Ratschläger 1983, 13/14) befindet sich eine Collage, die unter anderem einen Bahnhof mit Gleisen zeigt. Was die anatomierte Riesenhand im Vordergrund bedeuten soll, bleibt jedoch unklar, und die Positionierung eines Mannes auf den Bahngleisen mag bedenklich stimmen. Daß es zur Verdeutlichung der im Artikel enthaltenen Anweisungen – es geht um angemessenes Verhalten bei der Abreise von Gästen – keiner Illustration bedarf, muß kaum eigens betont werden: Man braucht kein Bahnhofsbild, um sich eine Abreise vorzustellen. Umgekehrt kann man sich bei dem Bild alles mögliche vorstellen, ohne daß dabei das »Abreisen« eine Rolle spielte. Auch die auf derselben Seite plazierten Artikel »Abschied« und »Abschiedsveranstaltung« stehen dem Assoziationsfeld um Bahnhöfe und Gleise nahe, haben mit dem Bild ansonsten aber nichts zu tun.

Bei Tranchirer verrätseln die Texte die Bilder und die Bilder die Texte. Hinsichtlich der Vorliebe fürs Absonderliche und Abseitige, für Physiologisches und Pathologisches, für Unheimliches und Unbegreifliches stehen sie allerdings auch wieder in Korrespondenz. Wie die Artikel sogar die schauerlichsten und ekelerregendsten Themen mit der nüchternen Diktion des ärztlichen, hygienischen, naturkundlichen oder sonstigen lebenspraktischen Ratgebers abhandeln, sind die für Tranchirers Collagen gewählten Stahlstiche – bei aller inhaltlichen Rätselhaftigkeit – durch ihre feine und präzise Linienführung geprägt. Und wie in den Artikeln von manch Düsterem und Krankhaftem die Rede ist, geht von den Bildern vielfach Beklemmung aus. Sie erinnern an Träume, meist an Alpträume, sie zeigen Monströses, sie versetzen vielfach menschliche Figuren in finstere, bedrohlich wirkende Umgebungen, wenn sie sie nicht überhaupt in bedrängter Lage oder in verletzter, respektive in zerstückelter Form zeigen. Oft begegnen einander Elemente lebendiger Körper und Maschinenbestandteile. In bürgerlichen Wohnstuben finden sich eigenartige und bedrohlich wirkende Apparate, in Landschaften tauchen unerklärliche Objekte von rätselhafter Proportionierung auf.