V.
Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Dissens über den Fortgang der Wissenschaften. Tranchirer, seine Kollegen und Feinde

Die (vermeintlichen) Paratexte (vermeintlich, weil sie Bestandteil des literarischen Arrangements selbst sind) suggerieren zusammengenommen eine in den Ratgebern selbst nicht explizit dargestellte, aber ihnen zugrundeliegende Hintergrundgeschichte: die eines unermüdlichen Forschers Tranchirer, einer unerbittlichen Feindschaft zwischen ihm und seinen Gegnern, eines ständigen Ringens um wahre Einsichten und einer nicht minder durchgängigen Auseinandersetzung mit den Grenzen des Erforschbaren, Sagbaren, Darstellbaren.

»Ein einziger Blick in das reich illustrierte Buch wird erkennen lassen, daß es kaum eine Frage, ein Bedürfnis, eine Lebensverlegenheit gibt, auf die ich nicht eine erschöpfende Antwort gefunden habe. Jedermann, der sich Zeit nimmt, in den Geist meines Werkes einzudringen, wird verblüfft sein über die Geschwindigkeit, mit der sich sein Leben ändert.« (Ratschläger, 5)

In den »Mitteilungen an Ratlose« (Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose (1988), nach der Ausgabe 1997. Diese trägt den Untertitel: »Erste vollständige Ausgabe mit 33 neuen Stichwörtern und 69 bisher unveröffentlichten Collagen«) häufen sich die Vorworte und mit ihnen sowohl die Selbstempfehlungen und Rechtfertigungen als auch die bitteren Worte über den schlimmsten Antagonisten Tranchirers, eines Herrn mit dem sprechenden Namen Klomm. Auch die »Welt- & Wirklichkeitslehre« steht im Zeichen des Grolls über Klomm.

Welt- & Wirklichkeitslehre, 30f.: »Dinge. In der letzten Zeit hat man versucht, die verschiedensten Dinge der Welt zu unterscheiden und zu klassifizieren. Im Hinblick auf die zum Teil recht geringen Erfolge dieses Verfahrens wäre es, nach den Ansichten Klomms, erwünscht, wenn nur noch die großen bedeutenden Dinge in der Wirklichkeitslehre berücksichtigt würden. Der Wunsch, über besondere Dinge nachzudenken, ist natürlich erlaubt. Es fällt mir nicht ein, darüber ein Wort zu verlieren. Zumal ich Klomms Weltbetrachtungsweise derart klar widerlegt habe, daß ich mir weitere Worte ersparen kann. Dennoch bin ich, nachdem in den letzten Jahren sowohl die gesamte Welt der Mikroben, als auch die gefährlichen Teile kleiner Maschinen von Forschern wie Lemm und Collunder einfach hinweggeschwiegen wurden, der Ansicht, daß ein solches Verhalten unerlaubt ist. Ich verweise mit der gebotenen Sachlichkeit auf solche Dinge, von denen die obengenannten Herren offensichtlich nichts ahnen: auf die verlorenen Dinge. Sie sind klein und womöglich gerade ihrer Kleinigkeit wegen verlorengegangen, füllen aber dennoch in ihrer Gesamtheit große geschlossene Räume so endgültig aus, daß wir gezwungen sind, sie zu beachten. Namentlich würde es sich für Klomm und andere Stubengelehrte lohnen, einmal im Darminhalt von Schmeißfliegen und Küchenschaben zu forschen, um der Wirklichkeit auf den Grund zu gehen. Aber das wird nicht getan. Klomm, der mir Wirklichkeitsferne vorwirft, hält es für überflüssig oder gar unappetitlich. Appetitlich sind nun aber die Dinge nicht, und die Welt und die Wirklichkeit auch nicht.«

Die in Paratexten und Artikeln angedeutete Beziehung Tranchirers zu seinen Rivalen verweist wie die Artikel selbst auf die ästhetischen Intentionen der Ratgeberbücher. Klomms Kritik an Tranchirer, von diesem selbst in seinen Erklärungen zum Stichwort »Kulturfortschritt« angeführt, halten u.a. fest:

»Wir haben in den letzten Jahrzehnten […] schöne Fortschritte gemacht: der Aufschwung des nationalen Lebens ist unverkennbar auch der Kultur zu Gute gekommen. Aber bereits jetzt droht dieser Entwicklung die Gefahr der Versimpelung und der Verflachung. Die Tatsache allein, daß weite Kreise des Publikums Gebrauch machen von den Ratschlägern Tranchirers, dieser Beförderung allerhohlster Geschmacklosigkeiten, dieser Verneinung des schöpferisch Schönen und Guten, diesem Gewirr würde- und weiheloser Sätze, beweist, daß sie gar nicht begriffen haben, um was es sich handelt. […] Das ist die Ursache für so viele in ihrer gesunden Entwicklung ruinierten Menschen, für den ins Triviale ausmündenden Mangel an Geschmack, für zahllose durch den Kot geschleifte Ideale […].« (Letzte Gedanken, 72ff.)

Nicht nur in den Pseudo-Paratexten äußert sich Tranchirer so ausgiebig wie selbstbewußt zur eigenen Tätigkeit, sondern auch innerhalb der Ratgeber-Artikel selbst. Manche dieser Artikel stehen auf kuriose Weise mehr im Zeichen des Selbstbezugs als in dem des (vorgespiegelten) Sachbezugs.