V.
Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Spiel mit Bildern
Entkopplungen von Text und Bild

Pseudo-paratextuelle Hinweise und Verständnishilfen gelten auch den Bildern – so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Mehrfach verheißt Tranchirer seinem Publikum ein illustriertes Kompendium, dessen Nützlichkeit durch die Ergänzung der Texte um Bilder entscheidend gehoben werde; er suggeriert dabei, was für bebilderte Lexika und Enzyklopädien selbstverständlich erscheint: daß die Bilder den Text stützen, erläutern, verdeutlichen – und das heißt: daß sie in seinem Dienst stehen und entsprechend ihrer illustrativen Funktion ausgewählt bzw. angefertigt wurden. So heißt es in der »Nachbemerkung« zur »Welt- und Wirklichkeitslehre«:

»Außer Worten enthält das Buch etwa 350 dem Text beigegebene Abbildungen und zwar für alle diejenigen Fälle, wo es notwendig war, der Erklärung mit einer beigefügten Illustration zu Hilfe zu kommen.« (Welt- und Wirklichkeitslehre, S. 190)

Auf die sorgfältige Auswahl seiner Abbildungen hält sich der Lexikograph vieles zugute, wobei er – eigenem Bekunden nach – insofern Selbstzensur übt, als er auf Empfindlichkeiten seiner Leserschaft Rücksicht nimmt:

»Ich verzichte dabei auf die Fragwürdigkeiten auf dem Gebiet der Naturbeobachtung, auf alle pikanten Seitenblicke und schlüpfrige Abbildungen, soweit sie nicht meinen Kampf gegen die täglichen Ausschweifungen unterstützen: die schadenbringenden Schnapskneipen, die Schundkunst und Luderschriftstellerei, die abortschüsselhaften Weltverhältnisse in diesem Zeitalter der Schwellungen und Verstopfungen, der Ernährungsverbrechen und Violinengefahren, der kalten Wahrheiten, der falschen Richtungen und der falschen Ratschläge, die in so reichem Maße die Welt verdunkeln.« (Ratschläger, 5)

Auch in den Artikeln selbst werden vielfach Abbildungen erwähnt und ihre Aussagekraft betont. Beim Versuch allerdings, Tranchirers Bemerkungen über seine Illustrationen zu verifizieren, erlebt der Leser manche Überraschung: Vielfach wird auf Abbildungen Bezug genommen, die überhaupt nicht existieren, so etwa in den »Mittelungen für Ratlose« anläßlich des Lemmas »Gegenstände«, wo kurioserweise eine Abbildung zum Beleg dafür deklariert wird, daß der Ratgeber hemmungslos über alles spricht; tatsächlich bleibt es beim Sprechen, denn der Text steht für sich allein.

»Gegenstände. Die Bewegung der Welt ergreift uns tief, sie erstaunt und erzürnt uns, aber beinahe noch tiefer ergreifen uns die Gegenstände. Der Verfasser hat, wie man auf unserer Abbildung sehen kann, keine Hemmungen darüber zu sprechen. Heben wir, nur um ein Beispiel zu geben, einen Gegenstand mit der Hand empor und lassen ihn los, so beobachten wir, daß er den Ort verläßt und das Bestreben zeigt, sich der Erde zu nähern; mit anderen Worten: er fällt hinab. Aus einer Reihe anderer Erscheinungen sehen wir, daß sich nicht etwa eine bestimmte Zahl von Gegenständen von der Erde entfernt, wenn wir sie fortwerfen oder gar in die Luft schießen, sondern daß alle wieder herabfallen. Das ist ein beruhigendes Gefühl, und es gilt in sämtlichen uns bekannten Ländern; überall macht man die gleichen Beobachtungen, überall zeigen sich die gleichen Erscheinungen, überall fallen die Gegenstände von oben herab. Wir schließen also daraus, daß alle diese Gegenstände schwer sind oder das Bestreben haben, sich dem Erdboden zu nähern. – Bei einem Hausbau hat man mitunter Gelegenheit zu sehen, wie ein Maurer einen Gegenstand fallen läßt. So schlimm die Folgen auch sein mögen, sie entsprechen doch dem Gesetz des Fallens, des Hinabfallens, und beruhigen uns.« (Mitteilungen, 40)

Obwohl mehrfach von Beobachtungen die Rede ist und die geschilderten Ereignisse sich leicht visualisieren ließen, bekommen wir nichts zu sehen. Auf keiner benachbarten Abbildung ist etwas zu sehen, das dem Beschriebenen entspricht – was zum Thema »Bewegung der Welt« allerdings passen mag: Sollte sich das Bild entfernt haben?

Ein ähnliches Beispiel findet sich – stellvertretend für andere – in der »Welt- & Wirklichkeitslehre« anläßlich des gewichtigen Stichwortes »Wirklichkeit«:

»Wirklichkeit. Fünf bekannte und leider recht häufig auftretende Männer zeigt uns die nebenstehende Tafel. Die bildliche Darstellung darf als derart gelungen bezeichnet werden, daß der Vergleich ganz zu ihren Gunsten ausgeht. Tatsächlich übertrifft sie die Wirklichkeit noch um ein gutes Stück. Verwechslungen mit anderen Männern sind natürlich nicht ausgeschlossen; daher raten wir, immer vorsichtig mit Behauptungen zu sein, die die fünf abgebildeten Männer betreffen. Beim ersten sehen wir einen kleinen Fleck am Bauch auftauchen und lesen (179) sogleich unter Syphilis nach. Der zweite führt einen schillernden Ausschlag mit rotem Hof vor. Der dritte zeigt den erkrankten Rücken mit großen Beulen. Am vierten bemerken wir ein(e) Zahl kleiner Blasen. Die am fünften Mann sichtbaren blauen Verfärbungen sind durch Blutaustritte entstanden und zurückzuführen auf die Schläge der ersten vier Männer, die sich zusammengetan haben, um den fünften Mann von der Bildfläche zu verdrängen. Das ist nicht verwunderlich, denn er war als einziger ursprünglich für diesen Artikel vorgesehen.« (Welt- & Wirklichkeitslehre, S. 178f.)

Zu diesem Artikel – der doch so anschaulich von Beobachtbarem spricht – gibt es wiederum keine Illustration, auch wenn von einer ›besonders gelungenen‹ bildlichen Darstellung die Rede ist. In gewissem Sinn ersetzt die Beschreibung das abwesende Bild, nennt sie doch konkrete Details des angeblich Abgebildeten. Zudem erzählt der Artikel den Nukleus einer Geschichte, die eine hypothetische Erklärung für die Unsichtbarkeit der fünf Männer bieten könnte: Sollten diese sich gegenseitig so gründlich von der Bildfläche verdrängt haben, daß jetzt gar nichts mehr von ihnen zu sehen ist? Dann allerdings müßten sie als Figuren auf einem Bild noch aktiv gewesen sein, nachdem Tranchirer seinen Kommentar bereits geschrieben hatte.

Verbale und visuelle Darstellungen stehen nicht im Verhältnis wechselseitiger Erläuterung, und zwischen ihnen besteht kein hierarchisches Verhältnis – weder dienen die Bilder als Illustrationen dem Text noch die Texte als Bildlegenden dem Verständnis der Bilder. Stattdessen scheinen Texte und Graphiken in einem spielerischen Spannungsbezug zu stehen, der durch Strategien des Sich-Entziehens, des Widerstandes, der Verunklärung erzeugt wird. Wo Texte wortreich über Bilder oder Bildmotive sprechen, da scheinen diese eigenwilligerweise verschwunden zu sein, und wo Bilder von rätselhaften Räumen und Situationen nach einer Deutungshilfe zu verlangen scheinen, da ergehen sich die benachbarten Texte mit scheinbarer Beflissenheit über ganz und gar anderes.

Während die konventionelle Funktion von Bildern zu einer sachbezogenen sprachlichen Darstellung (wie einem Lexikon- oder Handbuchartikel) als Ergänzung, Verdeutlichung und visualisierenden Erläuterung charakterisiert werden könnte, spielt Tranchirer gerade mit diesen Relationen und verkehrt sie ebenso gründlich ins Gegenteil wie das ›enzyklopädische‹ Projekt als solches. Betrachtet man vergleichend die einzelnen Teile von Tranchirers mehrbändiger Enzyklopädie, so enthüllen sich an konkreten Beispielen diverse Strategien der Destabilisierung von Text-Bild-Bezügen.