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Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Zu »Raoul Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens«

In »Raoul Tranchirers letzten Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens« (1994) gehen Texte und Bilder neuerlich ebenso rätselhafte wie unterschiedliche Bündnisse ein. Das Spiel mit Zuordnungsmöglichkeiten setzt sich fort.

Dafür einzelne Beispiele: Wie eine Illustration wirkt die – allerdings von keiner Bildlegende begleitete – Collage mit dem Bild eines palastartigen Gebäudes vor einem Gebirgsmassiv, das sich seinerseits vor einem schwarzen Himmel erhebt. An diesem Himmel ist ein gigantischer Himmelskörper und, entfernter, ein etwas kleinerer zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich neben Artikeln über den »Milzbrand« und die »Mundhöhle« auch einer über den »Mond« (Letzte Gedanken, 88). Dieser wird allerdings nicht erklärend beschrieben, sondern als etwas Rätselhaftes um-schrieben; Tranchirers Text umkreist den Mond so wie dieser, der Auskünften des Artikels zufolge, die Erde. Und wenn man den Artikel auf die nebenstehende Abbildung bezieht, so stellt sich unter anderem die Frage, ob der Standort des Betrachters (vor dem Palast) ein Standort auf der Erde ist – aber welcher der Himmelskörper ist dann der Mond? Wenn die beiden Himmelskörper aber Mond und Erde sein sollten, so wäre unser Beobachterstandpunkt notwendig ein extraterrestrischer.

»Mond. Etwas, das frei in der Luft schwebt und sich dreht, ohne daß es auf irgendeiner Unterlage aufliegt und ohne daß es herunterfällt, ist gewiß etwas Merkwürdiges. Etwas, das von selbst seinen geheimnisvollen Umlauf beginnt und fortsetzt, rund und bleich wie der Mond, ist etwas Bemerkenswertes. Wir erwarten ein Murmeln des Erstaunens über die Lautlosigkeit dieses Vorgangs, der dem Zuschauer nicht nur geheimnisvoll, sondern eigentlich unheimlich erscheinen müßte; dennoch wird er gar nicht beachtet. Diese ganz außerordentliche Vorrichtung schwebt über uns dahin, dünn und flach, und wir halten sie für eine der selbstverständlichsten Erscheinungen der Welt, die nicht besonders hervorgehoben zu werden braucht. Wir tun es aber dennoch. Wir loben hier den Mond, der uns mit riesiger Geschwindigkeit umschwirrt.« (Letzte Gedanken, 88)

Dem Artikel »Tiere, eßbare« steht in den »letzten Gedanken« (Letzte Gedanken, 137) eine Collage gegenüber, auf der ein Man nachdenklich zwei riesige Kiwi-Vögel beobachtet; im Hintergrund ist ein Rudel Wildschweine zu sehen. Sollten die Tiere hier als »eßbare« betrachtet werden? Der Artikel allerdings verweigert in diesem Fall die Auskunft aus prinzipiellen Gründen:

»Tiere, eßbare. Es wäre eine sehr einfache und womöglich verdienstvolle Aufgabe, ein Verzeichnis sämtlicher eßbarer Tiere anzufertigen; ich fürchte nur, es ist keinem damit gedient.« (Letzte Gedanken, 137)

Dieser Band der Ratgeber-Serie enthält einen Artikel, der die Paradoxie von Tranchirers so plakativ nicht-illustrativem Verfahren ostentativ verdeutlicht. Unter dem Stichwort »Lederknarren« heißt es mit einem in sich widersprüchlichen Hinweis auf ein Bild, von dem zugleich seine Unsichtbarkeit behauptet wird:

»Im nebenstehenden Bild, das wir aus guten Gründen nicht abdrucken, ist eine Schere im Begriff, dem durch einen Haken über die Lungenspitze hochgezogenen und dadurch von der Lunge abgehobenen Brustfellsack die Kuppe wegzuschneiden und ihn zu öffnen. Die bloße Lungenspitze tritt zutage. Die beiden einander zugewandten stets etwas feuchten Flächen der zwei Brustfellwände reiben sich beim Atmen aneinander, wobei für das Ohr ein Geräusch wie Lederknarren entsteht und (80) für die betroffene Person ein heftig stechender Schmerz. Beim Klopfen vernimmt man einen gedämpften Schall. Es schleicht. Aber es schleicht langsam, nicht plötzlich. Es besteht also kein Grund zur Beunruhigung.« (Letzte Gedanken, 79f.)

Einmal abgesehen von der Frage, ob ein langsam schleichendes »Lederknarren« in der Lunge nicht doch ein »Grund zur Beunruhigung« sein könnte, provozieren diese Sätze zur Frage, welches wohl die ›guten Gründe‹ sind, die zum Nichtabdruck des ›nebenstehenden‹ Bildes geführt haben. Wäre es zu grausam oder abstoßend gewesen? Tranchirer ist allerdings sonst weniger zartfühlend. Oder ist der Verzicht dadurch motiviert, daß man Geräusche ohnehin nicht sichtbar machen kann? Auch dies hat Tranchirer in anderen Fällen nicht entmutigt. Während die Unlogik der Aussage keine vernünftige Motivation erschließen läßt, ist doch eines sicher: nämlich daß die paradoxe Wendung vom fortgelassenen ›nebenstehenden‹ Bild diesem die Neugier und Aufmerksamkeit des Lesers sichert. Dieser antizipiert in seiner Phantasie Schock- oder Frustrationseffekte, die das Bild hätte auslösen können, wenn es denn da wäre. Vielleicht hat es sich ja selbst entfernt, um den Leser zu schonen und sich zugleich auch seine Anteilnahme zu sichern.