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Verrätseltes, Verfremdetes, Verborgenes, Verzerrtes, Verfremdetes: Ror Wolfs poetische Ratgeberbücher
Zu »Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt«

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Die dargestellten Menschenfiguren selbst wirken oft wie fremde Objekte von ›unpassender‹ Proportion und an ›unpassendem‹ Ort. So finden sich auf der Doppelseite 16/17 des 1983er »Ratschlägers« zwar die Artikel »Ameisen« und »Ameisenkriechen« sowie zwei Collagen, welche assoziativ mit dem Motiv »Ameise« verknüpft werden können: Die eine zeigt einen Ameisen- oder Termitenbau, die andere eine Ansammlung von Insekten, und vorwiegend unbekleidete menschliche Figuren sind jeweils so ins Bild hineinmontiert, daß dessen Betrachtung Beklemmungs- oder auch Ekelgefühle erzeugen könnte. Die Artikel handeln aber keineswegs von Gefährdungen des Menschen durch die Ameise oder Ameisen-Alpträumen; vielmehr schlägt der Artikel »Ameisen« verschiedene abstruse Methoden zur Ameisenvertreibung aus Wohnräumen vor (Ratschläger 1983, 16f.), und »Ameisenkribbeln« handelt von einem »eigentümlichen Gefühl in der Haut« (Ratschläger 1983, 17).

Bei der Destabilisierung von Text-Bild-Bezügen erprobt Tranchirer ein ganzes Spektrum an Strategien. Manchmal ist es unmöglich, eine Beziehung zwischen räumlich benachbarten Bildern und Artikeln zu entdecken, manchmal sind die Motivparallelen unübersehbar – ohne daß jedoch von einer Illustration die Rede sein könnte. Der Artikel Auge erwähnt zwar – wie verschiedene andere Artikel auch – ein angeblich zu Illustrationszwecken beigefügtes Bild, macht zu dessen Position aber Angaben, die sich nicht verifizieren lassen:

»Das obere Bild zeigt den prächtig umpolsterten Augapfel, wie er im weichen Fettgewebe in der knöchernen Augenhöhle liegt. Wir sehen, wie er zur Seite rollt, nach allen Seiten, umgeben von der schimmernden weißen Augenhaut, die vorne die Bilder der Außenwelt aufnimmt, die ins Auge gelangen. Der über Pupille und Regenbogenheut [sic] sich vorwölbende Teil der weißen Augenhaut heißt Hornhaut, dahinter sehen wir einen großen kugligen Raum, gefüllt mit dem Glaskörper und austapeziert mit der Netzhaut. Wir bekommen auch einen guten Begriff vom Tränenapparat, denn wir sehen, wie die Tränenflüssigkeit hinabfließt und weiter über die Wangen am Kinn hinab in die Tiefe tropft.« (Ratschläger 1983, 26)

Hier gibt es gar kein »oberes« Bild, denn auf der aufgeschlagenen Doppelseite finden sich zwei Illustrationen, deren eine unter, und deren andere neben dem Artikel »Augapfel« steht. Aber das nebenstehende Bild (Ratschläger 1983, 27) zeigt immerhin ein anatomiertes Auge, über das sich eine Art bohrerförmiges Operationsinstrument hinabzusenken scheint. Die im Artikel beschriebenen genannten augenphysiologischen Details werden von diesem Bild nicht gezeigt. Zudem ist die offenbar aus einer anatomischen Zeichnung entnommene Augendarstellung in eine Umgebung hineincollagiert, die das Bild rätselhaft und mehrdeutig erscheinen läßt. Das Auge scheint sich aus den Wellen der See oder aus Wolken zu erheben. Im Hintergrund leuchten Gestirne auf, so daß das Auge selbst zugleich wie ein Himmelskörper wirkt.

Wie erwähnt, sind nur in seltenen Ausnahmefällen den Bildern Legenden beigefügt. Ein solcher Fall ist die Darstellung einer nackten, blumenbekränzten und die Leier spielenden Frau um Stil des Fin de siècle (Ratschläger 1983, 127). In kuriosem Kontrast zu dem schwülstig-erotischen Bildmotiv und seiner kitschigen Darbietung steht die Legende:

»Die anormale Rundung des Bauches tritt durch die rückwärts beugende Haltung des Oberkörpers stark hervor.« (127)

Ein Artikel, zu dem Bild und Legende passen könnten, findet sich in der Nachbarschaft nicht. Experimentiert man mit assoziativen Verknüpfungen, so bietet sich vielleicht der Artikel zum Thema »Kugel im Halse« an, in dem es heißt:

»Viele Frauen haben oft die Empfindung, als steige ihnen vom Unterleib her eine Kugel in den Hals und bliebe dort stecken […].« –

Das gleiche Fin-de-siècle-Pin-up findet sich, diesmal ohne Leier, auch an anderer Stelle abgebildet, diesmal kommentiert durch die Bildlegende:

»Der Umfang des Fusses steht zu der Entwickelung des Beines in ungünstigem Verhältnis« (Ratschläger 1983, 84).

Dem Bild benachbart finden sich unter anderem Artikel über »Füße, geschwollene«, »Füße, kalte«, »Füße, offene« sowie über den »Fuß« und den »Fußschweiß«. Sie enthalten allesamt hygienische und medizinische Auskünfte, teilweise verbunden mit Geschmacksurteilen, die es schwer entscheidbar machen, ob hier tatsächlich wörtlich aus älterer Ratgeberliteratur zitiert oder diese durch Überspitzung parodiert wird. – Der Artikel »Rauchen« (Ratschläger 1983, 173) wird – ausnahmsweise – von einer passenden Abbildung begleitet. Heißt es im Text: »es kommt […] vor, daß das Feuer (siehe Abbildung) von der Cigarre einer anderen Person übernommen wird« (Ratschläger 1983, 174), so zeigt die unmittelbar darüber positionierte Abbildung tatsächlich zwei rauchende Herren, deren einer seine Zigarre an der des anderen anzuzünden scheint (Ratschläger 1983, 174). Der Informationswert des Bildes geht freilich gegen Null.